Interview mit dem Autor des Sachbuchs „Abbey Road“.
Ein Stadthaus aus dem 19. Jahrhundert im Londoner Distrikt St. John’s Wood wurde vor 95 Jahren von der EMI erworben, um es in das erste maßgeschneiderte Aufnahmestudio der Welt zu verwandeln: Abbey Road. Es ist bis heute die prestigeträchtigste Klangschmiede der Welt. An der Abbey Road Nummer 3 nahmen die Beatles fast alle ihre Platten auf, wirkten Pink Floyd oder Daniel Barenboim. Der britische Musikjournalist, Schriftsteller und Fernsehmoderator David Hepworth, 73, hat die Geschichte dieses legendären Ortes aufgeschrieben. Olaf Neumann sprach mit ihm über die Episode mit den Beatles.
1962 wurde eine junge Band von George Martin und Ken Townshend zu Testaufnahmen in die Abbey Road eingeladen: The Beatles. Was war an dieser Session so bedeutend?
David Hepworth: Nun, ihre ersten Sessions waren nicht wirklich erfolgreich. Martin und Townshend hielten ihr Equipment für nicht besonders gut. Aber sie waren von ihren Persönlichkeiten beeindruckt. Also beschlossen sie, es mit den Beatles zu versuchen. Ich glaube, der entscheidende Moment bei der Band war, als sie ihre erste LP „Please Please Me“ aufnahmen, die an einem Tag fertig war. Aber es fehlte noch ein Song und jemand schlug vor, „Twist and shout“ aufzunehmen. Wenn man sich diese Nummer heute anhört, 60 Jahre später, dann klingt sie absolut elektrisierend. Man kann hören, wie aufgeregt die Beatles über den Klang waren, den sie selbst gerade erzeugten. Man muss sich das nur neben den anderen Sachen anhören, die zur gleichen Zeit in der Abbey Road aufgenommen wurden, um zu erkennen, wie außergewöhnlich die Beatles waren. Vor ihrem „Twist and shout“ hatte niemand in Europa eine großartige Rock’n’Roll-Platte gemacht. Und sie haben das Stück nicht einmal selbst geschrieben! Diese außergewöhnliche Aufnahme änderte die Regeln. Ich glaube nicht, dass das woanders hätte passieren können. Der Tontechniker Norman Smith wollte bei dieser Session einfach nur das Gefühl von „live“ haben – und das hat er dann auch bekommen.
Wie konnte ein einziges Studio so einen großen Einfluss auf die Hörgewohnheiten haben?
Hepworth: Nun, Abbey Road war das erste Full-Service-Studio und ist wahrscheinlich auch das letzte. Der Grund, warum es in London bleibt, ist, dass es unter Denkmalschutz steht. Das bedeutet, dass man per Gesetz nichts an diesem nationalen Wahrzeichen ändern darf. Es ist ein Ort von außergewöhnlichem historischen Interesse. Man kann nicht einmal den Zebrastreifen um fünf Zentimeter nach links oder rechts verschieben, weil auch der unter Denkmalschutz steht. Die Romantik der Abbey Road Studios hat mit der Tatsache zu tun, dass sie neben dem House of Parliament das einzige Wahrzeichen Londons sind, das sich nie verändert hat. Die Straße sieht immer noch gleich aus, nur die Parkbeschränkungen sind heute ein wenig anders. Wenn man als Tourist von der St. John’s Wood Station um die Ecke biegt und auf die Abbey Road hinunterblickt, sieht sie genauso aus wie damals. Man kann versuchen, ein Foto nachzustellen, indem man auf dem Zebrastreifen hin- und herläuft und dabei die Verärgerung der Taxifahrer riskiert.
Wie kam es eigentlich zu dem berühmten „Abbey-Road“-Albumcover?
Hepworth: Aus Versehen. Die Beatles gingen dreimal über den Zebrastreifen und der Fotograf machte sechs Bilder. Aber es war nur ein einziges brauchbar. Und sie sagten: Okay, das ist gut! Ihre Idee war, dass dies die Beatles entmystifizieren würde. Aber es hat genau das Gegenteil bewirkt! Der ursprüngliche Plan war, dass sie auf den Gipfel des Mount Everest klettern, um Fotos zu machen. Das wollten sie aber nicht und gingen einfach außerhalb des Studios über diesen Zebrastreifen. Deshalb sind die Beatles solch ein magisches Phänomen.
Was hat der strenge George Martin zum Drogenkonsum der Beatles gesagt?
Hepworth: Er hat mit ihnen nicht viel darüber gesprochen, denn sie waren es, die das Unternehmen am Laufen hielten. John Lennon hat nur einmal während einer Aufnahmesession LSD genommen, ich weiß nicht mehr, um welchen Song es sich handelte. Jedenfalls fühlte er sich unwohl und sagte, George Martin solle ihn auf das Dach bringen, um frische Luft zu schnappen. Als John dort ankam, dachte George Martin, das sei keine gute Idee, denn der Beatle sah irgendwie seltsam aus. John Lennon hat das nie wieder getan. George Martin war wie ein Schulmeister, die Beatles benahmen sich irgendwie unter ihm. Er war viel größer als sie und auch ein bisschen älter. Er kehrte aus dem Krieg zurück mit einem anderen Akzent, er klang ein bisschen nach Oberschicht. George Martin wirkte wie ein Offizier.
Bis 1966 hatte der EMI-Angestellte George Martin an den millionenfach verkauften Beatles-Platten keinen Cent verdient. War er denn an den späteren Beatles-Umsätzen beteiligt?
Hepworth: Ja, er hatte dann ein Produzentenhonorar, aber kein großes. George Martin war mehr daran interessiert, seine Air-Studios auszubauen. Ich glaube nicht, dass er durch die Beatles großartig reich geworden ist. Auf der anderen Seite sind die Beatles selbst durch ihre Arbeit auch nicht sehr wohlhabend geworden. Das große Geld kam erst Jahre später. George Martin hat mit der Beatles-Anthologie in den 1990er Jahren mehr verdient als mit dem Material aus den 1960er Jahren. Weil man plötzlich 14 Pfund für ein verkauftes CD-Album bekam. In den 1960er Jahren wurde eine Vinyl-Single für weniger als zehn Schilling verkauft. Aber es hat Martin weltberühmt gemacht. Auch sein Sohn Giles macht den gleichen Job, er produzierte sogar die Beatles.
Wie hätten die Beatles ohne George Martin und die Abbey Road Studios geklungen?
Hepworth: Sie hatten unglaubliches Glück, ihn zu finden, kein Zweifel. Es war eine Ehe, die im Himmel geschlossen wurde. Wenn Sie wissen wollen, was Martin geleistet hat, müssen Sie sich einmal die Beatles neben den Hollies anhören. Letztere waren eine wirklich gute Gruppe, aber sie wurden von Martins Assistenten Ron Richards produziert, der einfach nur seinen Job erledigen wollte. Martin hingegen machte Platten, die besser waren, als sie sein mussten, die Finesse und Magie besaßen. Alles, was die Beatles tun wollten, nahm er als persönliche Herausforderung an und versuchte, einen Weg zu finden, es möglich zu machen. Viele andere Produzenten hätten sich nicht diese Mühe gemacht.
Paul McCartney schrieb das Vorwort für Ihr Buch. Hatten Sie Gelegenheit, mit ihm und Ringo Starr noch einmal zu sprechen?
Hepworth: Nein, ich habe aber in der Vergangenheit ein paar Mal mit Paul McCartney gesprochen. Ringo habe ich nie getroffen. McCartney besitzt immer noch ein Haus gleich um die Ecke der Abbey Road Studios. Er hat es gekauft, um in der Nähe seiner Arbeit zu sein. Er nutzt das Haus heute noch gelegentlich. „Come and get it“ ist ein Song, den Paul 1969 für die Band Badfinger schrieb. Er stand morgens mit einer Idee auf, setzte sich ans Klavier, ging zu Fuß zur Abbey Road, nahm dort seine Stimme, den Bass und das Schlagzeug auf und war mit dem Song fertig, als der Rest der Beatles eintraf. Dann übergab er das Band an den Roadie Mal Evans mit den Worten: „Badfinger können den Song haben, wenn sie ihn genau so spielen!“
Warum hasste John Lennon eigentlich seine unbearbeitete Stimme?
Hepworth: Nun, manche Leute mögen ihre Stimme einfach nicht. Auf den Platten, die John Lennon nach George Martin gemacht hat, hört man viel Echo. „Instant Karma“ und all diese Sachen: Echo, Echo, Echo. Seine Stimme ist da irgendwie verschwunden. Bei den Beatles wollte er immer, dass sie doppelt aufgenommen wird, und so erfand Ken Townshend die automatische Doppelaufnahme. Das ist ein klassischer Fall dafür, wie die technischen Lösungen von Abbey Road kreative Möglichkeiten für die Beatles eröffneten.
Unterscheiden sich die Beatles wirklich so sehr von anderen Gitarrenbands ihrer Zeit?
Hepworth: Sie haben eindeutig viel bessere Platten gemacht als alle anderen in der Abbey Road. Und EMI hatte wirklich viele Hits in den Sechzigern. Aber man würde die Platten von Gerry and the Pacemakers oder Billy J. Kramer & The Dakotas nicht mit den Beatles vergleichen. Wir können uns eine solche Gruppe heute nicht mehr vorstellen, denn die vier waren wirklich gute Sänger und Instrumentalisten. Ihr genialer Produzent war in der Lage, ihre musikalische Persönlichkeit auf Platte zu bannen. Niemand sonst konnte das so gut wie sie. An diesen Platten gibt es nichts zu verbessern. Ich persönlich bin sehr froh, dass die Beatles nie wieder zusammengekommen sind. Denn es ist eine perfekte Geschichte.
Wie erklären Sie sich, dass einem die Beatles nie langweilig werden?
Hepworth: Das liegt an der internen Dynamik innerhalb der Gruppe, dem Wettbewerb untereinander und der Zusammenarbeit. Eines der Dinge, die ich an ihren Platten bewundernswert finde, ist die Art und Weise, wie sie Songs wie „Help“ oder I wanna hold your hand“ beginnen lassen. Da muss sich überhaupt nichts aufbauen, es fängt schon auf diesem Niveau an und steigert sich sogar ein wenig. Sie waren in der Lage, die Aufregung einzufangen, die sie selbst über das, was ihnen da widerfuhr, empfanden. An dem Tag, an dem sie „She loves you“ aufnahmen, kamen einige junge weibliche Fans ins Abbey Road Studio und versuchten, die Beatles zu finden. Das ganze Gebäude war beunruhigt und die Mädchen mussten gebremst werden. Norman Smith sagte, man könne die Aufregung dieses Tages in der Art hören, wie die Beatles „She loves you“ sangen.
Gibt es etwas, was Ihnen erst beim Schreiben dieses Buches wirklich bewusst wurde?
Hepworth: Ich habe das Gefühl, die Beatles werden immer noch unterschätzt, weil wir heutzutage eher den letzten Teil ihrer Karriere bewundern, die Ära der langen Haare. Aber wir vergessen oft die Genialität von „She loves you“, „Twist and shout“ oder „I wanna hold your hand“. Vor allem „A hard days Night“ ist eine außergewöhnliche Platte, auch heute noch. Sie mussten sieben Songs für den gleichnamigen Film schreiben. Einer davon sollte den Titel für den Film liefern. Und dann machten sie noch sechs weitere Stücke, die nicht stark genug für Singles, aber gut genug für die LP waren. Seitdem hat keine andere Band mehr so viel Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten gehabt.
Welches war die größte Innovation, die in den Abbey Road Studios entwickelt wurde?
Hepworth: Das war „A hard day’s Night“. 1964, mitten in der Beatlemania, kamen diese vier Jungs aus den USA zurück, drehten einen Film und schrieben, sangen, spielten und nahmen 13 neue Songs für ein Album auf. Es war ihre Vision, ihr Sound, ihre Erfindung. Und es wurde ein riesiger Erfolg. Das war vorher undenkbar, selbst in der Welt der klassischen Musik. Seitdem versuchen Bands, selbiges zu tun. Und die meisten von ihnen können es nicht, weil die Beatles einfach außergewöhnlich waren. Das ist es, was die Mystik von Abbey Road ausmacht. Hier ist etwas passiert, was nie zuvor passiert ist und nie wieder passieren wird.
Was denken Sie über den neuen Beatles-Song „Now and then“, der mit Hilfe von KI entstanden ist?
Hepworth: Die Technik verbessert sich ständig. Ich habe Peter Jacksons magische Box noch nicht in Aktion gesehen, aber heutzutage kann man jede Sounddatei auf einem Bildschirm betrachten, die verschiedenen Frequenzen sehen, dieses Instrument von den anderen trennen und es kopieren. KI ist ein guter Diener und ein schlechter Meister.
Peter Jackson sagte, es wäre für KI kein Problem, mehr Beatles-Songs à la „Now and then“ zu generieren. Wird da noch mehr kommen?
Hepworth: Ich würde nicht dagegen wetten. Es wurde ja gerade angekündigt, vier biografische Beatles-Filme zu drehen. Als George Martin in den frühen 1990ern gefragt wurde, ob es etwas von den Beatles gäbe, das noch veröffentlicht werden könnte, sagte er: „Nein, es gibt überhaupt nichts“. Und drei Jahre später produzierte er die „Anthology“-Album-Reihe. Denn plötzlich interessierte sich der Markt für unvollendete Dinge. George Martin dachte sehr lange, dass das nie passieren würde. Wer weiß, vielleicht gibt es bald noch mehr Dinge wie die Las Vegas Show „Love“ des Cirque du Soleil. Man hat einen neuen Weg gefunden, die Beatles zu präsentieren. Aber ich halte deshalb nicht den Atem an. Ich kann getrost vorhersagen, dass es nicht so gut sein wird wie die echten Beatles.
David Hepworth
David Hepworth, Jahrgang 1950, ist ein britischer Musikjournalist, Schriftsteller, Fernsehmoderator und Analyst der Verlagsbranche. Zusammen mit Mark Ellen machte er „Smash Hits“ zu einem der beliebtesten britischen Musikmagazine der 1980er Jahre. In der Zeit moderierte er auch die Sendung „The Old Grey Whistle Test“ und war 1985 Co-Moderator der BBC-Übertragung von „Live Aid“. Während der Live-Sendung provozierte er Bob Geldof dazu, wiederholt das Wort „Fuck“ zu benutzen. 2021 wurde Hepworths Buch „1971 – Never a Dull Moment: Rock’s golden Year“ für eine Miniserie auf apple TV adaptiert.
David Hepworth: “Abbey Road. Die Geschichte des berühmtesten Musikstudios der Welt“ (Hannibal, 376 Seiten, € 30,00, ISBN 978-3-85445-770-1) – VÖ: 28.3.2024
Foto: Imogen Hepworth